„Junge, ist alles okay?“ fragte
Hage und kam ihm im Laufschritt hinterher. „Ja“, schnaubte Frank ohne sich
umzudrehen. Das Letzte was er wollte war, die ganze Geschichte jetzt zu
erzählen. Er wollte seine Ruhe haben und sich Sunshines Brief witmen. Seine
Hände zitterten noch immer. Die ersten Worte die er seit Jahren von ihr
bekommen hatte. Der Briefumschlag schien tonnenschwer zu sein. Sie hatte seinen
Geburtstag nicht vergessen, hatte sie nie. Wie hatte er nur denken können, dass
sie nicht mehr an ihn dachte. Sunshine war der mitfühlendste Mensch den er
kannte und selbst wenn sie Kevin wirklich liebte, hätte sie ihm nie vergessen,
dass er hier drin war. Niemals.
„Wer war dieser schlaksige Typ?“,
wollte sein Freund wissen.
„Ist nicht weiter wichtig“,
wehrte Frank ab und starrte den Umschlag weiter an. „Ich komm schon klar, geh
zurück zu deiner Frau.“
Hage schien sich nicht ganz
sicher zu sein, ob er dieser Bitte folgen sollte. Wie ein verunsicherter Riese
blickte er über seine Schultern und wieder zu Frank. Doch dann schien er den
Worten langsam Vertrauen zu schenken und drehte sich langsam um. „Wir sehen uns
dann später …“, brummte er.
Frank brauchte frische Luft, er
rannte auf den Innenhof. Zu dieser Zeit war niemand hier, weil alle mit dem
Besuch beschäftigt waren und Frank saugte die kühle Luft tief ein und
betrachtete den Briefumschlag erneut. Der erste Schnee würde nicht lange auf
sich warten lassen, es war bereits schweinekalt und irgendwie schien man es
schon riechen zu können. Sein Herz pochte viel zu schnell.
Vorsichtig ließ er sich auf die
Bank sinken. Als er das Papier aufriss zitterten seine Hände. Kaum zu glauben,
bei einer solchen Kleinigkeit versagten seine Nerven und ihm brach der kalte
Schweiß aus. Frank zog einen handgeschriebenen Brief hervor und legte ihn zur
Seite, dabei viel ein Foto auf seinen Schoß und er hob es sachte an.
Sein Herz blieb stehen als
Sunshine ihn auf einem Foto anstrahlte. Sie war tausendmal schöner als in
seiner Erinnerung. Er beugte sich näher über das Papier um jede Sommersprosse
zu sehen. Die Erinnerungen, denen er nachgetrauert hatte, kehrten langsam
zurück. Nicht alle, aber er hatte das Gefühl wieder den Duft ihres Haares zu
riechen und wieder den Klang ihrer Stimme hören zu können. Er legte auch das Foto
zur Seite und bekam einen Schock als er das nächste Foto sah.
Sunshine hielt ein Baby im Arm,
ein kleines Mädchen wenn er die kleine Schleife im Haar richtig deutete. Mit
braunen Locken und strahlenden Augen. Ohne es zu bemerken lächelte er. Das war
seine Tochter. Am liebsten hätte er über das kühle Papier gestrichen, hielt
sich jedoch selbst im letzten Moment davon ab.
Scheiße, das ist meine Tochter.
Sie hatte viel von ihm, zumindest
wollte er das gerne glauben. Das dunkle Haar, sogar einige seiner Gesichtszüge.
Seine Tochter, dass also war seine Tochter.
Kommt es mir nur so vor oder ist sie tatsächlich das schönste Baby das
ich je gesehen habe? Verdammt ich werde noch sentimental …
Er sah die anderen Fotos durch.
Es waren viele von der Kleinen dabei, und zu seiner Überraschung nicht eins von
Kevin. Die Kleine lächelte auf jedem Foto. Ein richtiger, kleiner Sonnenschein,
eine richtige kleine Sunshine. Sie hatte Sunshines Augen, wenn auch nicht die
Sommersprossen oder die Blässe.
Er nahm sich wieder das erste
Foto und betrachtete Sunshine eine ganze Weile. Nur das er sich jetzt nicht
noch einmal zurück halten konnte, mit dem Finger strich er über das glatte
Papier als könnte er so ihre Haut berühren. Ihr rotes Haar hing ihr ins Gesicht
und die smaragdgrünen Augen waren traurig wie eh und je.
Frank lehnte sich zurück und
versuchte sich vorzustellen wie sie vor ihm stand, aber es wollte ihm nicht
gelingen. Also gab er es wieder auf und griff nach dem Brief.
Frank,
Ich hoffe so sehr, dass es dir gut geht, oder dass du zumindest zurechtkommst.
Glaub mir, es war nicht meine Idee, dass Kevin zu dir kommt. Ich kann
mir nur schwer vorstellen, wie es für dich sein muss, dass gerade er dir den
Brief gegeben hat, aber er wollte mich nicht gehen lassen. Ja, ich wäre
gegangen, auch wenn du es mir verboten hast, ich wollte dich sehn. Ich wollte
zu dir. Nicht zu wissen wie es dir geht, und nicht zu wissen, was du durch
machen musst… Das bringt mich fast um den Verstand. Ich wünschte ich könnte
dich nur eine Minute lang sehen, und dir alles sagen, was ich jetzt versuchen
muss auf dieses Blatt zu bekommen.
Happy Birthday!
Wenn ich backen könnte hätte ich dir einen Kuchen gemacht, aber ich
wollte nichts in die Luft sprengen oder dich vergiften. Da hast du es mal
wieder, ich bringe keine vernünftigen Worte heraus, wenn ich an dich denke. Du
fehlst mir und ich wünschte so sehr, dass es anders gekommen wäre. Ich wünschte
du könntest sehen, wie die Kleine aufwächst. Sie heißt Rachel. Ist sie nicht
ein Engel? Sie hat viel von dir, manchmal mehr als ich es mir lieb ist. Sie ist
genauso stur und sie hasst Babybrei. Immer wenn ich sie ansehe, muss ich an
dich denken. Ohne dich erscheint mir die Welt nicht mehr so wie sie einmal war.
Ach Frank! Du hattest Recht mit Kevin, mit allem. Zum ersten Mal in meinem
Leben, möchte ich etwas wieder gut
machen. Ich bereue es. Ich bereue alles was ich dir angetan habe. Wie konnte
ich nur denken, dass jemand wie Kevin dich ersetzten könnte? Dass irgendjemand
dazu in der Lage wäre deinen Platz einzunehmen …
Es war bescheuert von mir zu glauben, dass ich jemals ohne dich leben
könnte. Aber jetzt bin ich klüger, dass kann ich dir versprechen.
Frank, ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll. Scheiße, ich weiß ja
nicht mal wirklich WAS ich dir sagen soll. Aber ich…
Der Brief wurde ihm aus der Hand
gerissen. Einige Sekunden wusste er nicht warum und starrte seine Handflächen
an, als könnte er dort weiter lesen. Hulio lachte und zerknüllte geräuschvoll das
Papier.
„Sieh an, du hast also eine
kleine Freundin!“
Er grinste ihn an. Frank stand langsam
auf, jeder seiner Muskeln war zum zerreisen gespannt. Auf einen Streit hatte er
keine Lust, er wollte einfach nur weiter lesen.
„Gib mir das wieder!“ knurrte er
und streckte dem Arschloch die Hand entgegen. Bereits jetzt spürte er das Blut
in seinen Ohren rauschen. Panik und Wut verschwammen in seinem Kopf und machten
jede Bewegung unmöglich. Hulio zeigte sich unbeeindruckt. Einige seiner Leute
standen in der Nähe, Frank glaubte allerdings, dass sie außerhalb der Hörweite
waren.
„Was wenn nicht?“ fragte er
schlicht, den zerknüllten Brief noch immer in der Hand. Er griff nach dem Foto
auf dem Sunshine Frank anstrahlte. „Hübsches Ding“, sagte er anerkennend und es
klang tatsächlich ernst gemeint.
Frank lief ein Schauder über den
Rücken. Er wollte nicht, dass dieser Kerl wusste wie sie aussah, er wollte
nicht wissen, dass er heute Nacht an seine Sunshine denken würde, wenn er sich
in der Zelle einen runterholte.
„Ist sie nicht etwas jung für
dich? Sie sieht aus als sei sie noch nicht mal volljährig.“
Wut ließ seinen gesamten Körper
erzittern. Doch er gab sich Mühe es nicht zu zeigen. Er wusste das würde diesen
Kerl nur noch mehr provozieren. Alles was zählte war, dass er weiter lesen
konnte.
„Das geht dich einen Scheiß an“,
grunzte er zähneknirschend. Hulio betrachtete das Foto noch mal.
„Hätte nicht gedacht das du einer
bist der kleine Mädchen fickt.“
„Halt deine Schnauze!“ schrie
Frank ihn an und trat bedrohlich auf ihn zu. Hulio lachte noch immer.
„Das ist ja fast niedlich! Ich
frage mich wie weit du gehen würdest!“, meinte er und hämisch. Er hatte ja
keine Ahnung. Frank war kurz davor in die Luft zu gehen, er konnte wirklich
viel verkraften. Aber niemand durfte sich ein Urteil über ihn und seine
Sunshine bilden. Weder Hulio, noch Kevin, noch irgendjemand sonst und es war
ihm verdammt noch mal egal, was er tun würde, wenn dieser Bastard es wagte
weiter zusprechen.
„Eine wirkliche Schönheit, das
muss man dir lassen. Hat sicher schon sehr
vielen Männern den Kopf verdreht. War sie vielleicht mal eine Nutte? Sie
kommt mir so bekannt vor …“
Er legte das Foto weg und faltete
den Brief auseinander.
„Gib ihn mir!“ verlangte Frank
erneut und versuchte nach dem Brief zu greifen. Doch Hulio wich ihm aus. Seine
dunklen Augen flogen über das Papier. Als wäre er aus Stein, stand Frank da. Er
wusste nicht was er tun sollte. Er spürte nur das Brodeln seines Blutes und
einen Moment war er sich sicher, dass er Hulio gleich umbringen würde. In
seinem Kopf tauchten Bilder von Hinrichtungen auf. Wie viele Arten es doch gab,
jemanden den Kopf vom Körper zu trennen. Er würde ihm entweder den Kopf
einschlagen, oder seine Knochen zu Brei verwandeln, vielleicht beides in
umgekehrter Reihenfolge.
Anerkennend pfiff Hulio durch die
Zähne.
„Mensch, Frank! So wie es
aussieht haben wir eine ganze Menge gemeinsam!“ Schwer atmend ließ Frank seine
Fäuste knacken.
„Du irrst dich gewaltig“, zischte
er vor Wut bebend. Hulio schüttelte den Kopf und sah ihn auf eine seltsame Art
an. So, als würde er nicht verstehen, was er meinte.
„Doch mein Guter, wir stehen
beide auf kleine, enge Mädchen“, erklärte er leicht hin.
In diesem Moment brannte bei
Frank eine Sicherung durch. Er bemerkte nur wie er auf Hulio zu stürmte. Danach
war alles eine undurchdringliche Masse und als nächstes bekam er mit wie Hage
ihn von Hulio runter zog. Zeitgleich spürte er das Brennen seiner Fäuste und
das Bluten seiner Nase. Außerdem hörte er Hulio hecheln, es hörte sich an, als
hätte er ihm die Luftröhre zerquetscht. Er versuchte sich von Hage loszureißen
und wieder auf Hulio los zu stürmen, aber der Große hielt ihn fest. Er war
beeindruckend stark.
„Beruhig dich Junge“, sagte er
milde, auch wenn er wusste, dass in dieser Situation Worte nichts brachten. Wie
wild schlug Frank um sich und achtete dabei auch nicht darauf, ob er Hage traf.
Dieser gab ein nach Schmerz klingendes
Zischen von sich.
„Scheiße, Frank jetzt hör auf
damit! Wenn du ihn kalt machst kommst du hier nie mehr raus …“
Erneut versuchte er sich
loszureißen, aber Hage blieb hartnäckig. Wutentbrannt musste Frank zusehen wie
der Bastard von seinen Leuten aufgehoben wurde. Mit leichtem Stolz musste er
sich eingestehen, dass er Hulio ziemlich stark getroffen hatte, sein Gesicht
war jetzt schon blau und grün. Es war unförmig angeschwollen und überall lief
Blut hinunter, sogar aus den Ohren. Hulio sah ihn nicht an. Er hatte den Brief
noch immer in der Hand. Er konnte kaum gerade stehen, stieß seine Leute aber
von sich weg. Er spuckte Blut auf den Boden vor seinen Füßen. Dann sah er den
Brief an. Hage packte Frank so sehr an den Schultern das es wehtat.
Er zerriss ihn. Erst in zwei
Teile, dann in vier. Bei dem Geräusch des reißenden Papiers zuckte Frank
zusammen. Es war als hätte man sein Herz in einen Mähdrescher gesteckt. Er
wollte diesem Arsch den Rest verpassen, aber inzwischen hielten ihn noch mehr
Leute fest. Er sah Thomas Luck, und einige Andere. Er konnte nichts weiter tun
als hilflos zuzusehen, wie das einzige, was er von Sunshine, hatte zerstückelt
wurde.
Hage und drei andere schafften
ihn wieder in seine Zelle. Sie stießen ihn aufs Bett, aber Frank war sofort
wieder auf den Beinen. Hage versperrten ihn dem Weg nach draußen, als Frank
sich an ihm vorbei schieben wollte.
„Verdammte Scheiße! Lass mich
durch!“ kreischte Frank, mit einer Stimme die kaum noch seine eigene war. Hage
schnaubte kurz. Er stieß ihn heftig zurück. „Bullshit!“ schnauzte er. „Hast du
den Verstand verloren, Junge? Wenn du da wieder raus gehst, werden Hulios Leute
dich in tausend Stücke reißen.“
Frank heulte leise auf, wie ein
Hund der am Verhungern war. „Ich muss raus!“ beharrte er. Dabei hörte sich
seine Stimme schon fast flehend an.
Komm schon lass mich einfach wieder zurück gehen, vielleicht ist noch
etwas übrig …
„Das kannst du vergessen!“ rief
Hage und warf die Arme hoch. „Ich kann verstehen, das,s du diesem Arsch geben
willst was er verdient. Aber du hast heute genug getan. Ihn noch mal
anzugreifen wäre sicher nicht ratsam!“
„Ich will nicht zu Hulio!“
unterbrach Frank ruckartig.
Hage krauste die Augenbrauen.
„Was?“ Er hatte keine Ahnung was der Junge damit sagen wollte. Wieder versuchte
Frank sich an Hage vorbei zu schieben und dies Mal schaffte er es auch, so
schnell er konnte rannte er zum Innenhof. Von den Fotos war nichts mehr zu
sehen. Er biss die Zähne zusammen. Die Anderen sahen ihn an, dass konnte er
spüren.
Warten sie jetzt darauf mich kalt zu machen oder halten sie
respektvollen Abstand?
Sein Blick fiel auf den Boden. Er
fand einen kleinen Fetzen von Maries Brief. Nicht groß, vielleicht zwei
Zentimeter.
Ich liebe dich aber, … du verstehst, Rachel…
Mehr nicht. Das war es. Mehr
hatte er nicht übrig gelassen.
Ich liebe dich aber…
Er spürte eine starke Hand auf
seiner Schulter. „Komm wieder rein, Junge. Bevor Hulio dich noch einmal
versucht fertig zu machen.“
Er darf es gerne noch einmal versuchen, aber dieses Mal bekommt mich
niemand mehr von ihm runter. Ich hätte ihm sein
dämliches Grinsen endgültig aus dem Gesicht prügeln sollen.
Frank wollte sich gerade
umdrehen, als er etwas bemerkte. Ein Foto musste Hulio vergessen oder verloren
haben. Es lag unter der Bank auf der Frank gesessen hatte. Es war zerknüllt und
eingerissen, aber vorhanden.
„Sunshine“, murmelte er so leise,
dass Hage es nicht hören konnte. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen
während er in ihre Augen blickte.
„Komm jetzt, Junge“, sagte Hage
nochmals drängend. Er sah sich etwas besorgt um, als würde er erwarten, dass
die halbe Mafia auf ihn zustürmen könnte. „Deine Nase blutet immer noch.“
Als Frank an sich herunter sah,
bemerkte er tatsächlich, die dicken Blutstropfen die sich in seine Kleidung
gesaugt hatten. Nicht nur seine, auch die von Hulio. Er hielt das Foto soweit
von sich weg, dass es nicht dreckig werden konnte. Er wollte Maries Gesicht nicht
mit seinem Blut beschmutzen.
Als die beiden Häftlinge wieder
in ihrer Zelle waren, setzte Hage sich vor Frank und betrachtete die Nase mit
einem kritischen Blick. „Ist gebrochen“, sagte er mehr zu sich selbst. „Du
musst auf die Krankenstation.“
„Muss das sein?“
„Willst du das schief zusammen
wächst?“
Frank zuckte mit den Achseln er
hörte nur mit einem halben Ohr zu. Ich
liebe dich aber…
Er hätte alles dafür gegeben, den
Rest des Briefes zu lesen, doch Hage zog ihn unbarmherzig zur Krankenstation.
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