Die Stadtgöttin
Sie ist so schön, dass wehtut,
sie lange anzusehen und trotzdem kann niemand den Blick von ihr abwenden. Bei
jedem ihrer Schritte wippt das lange dunkle Haar sachte hin und her. Dabei
scheint selbst der Wind den Atem anzuhalten. Die rotbemalten Lippen verziehen
sich nie zu einem Lächeln, als wäre ihr perfektes Gesicht in kalten Marmor
gehauen worden.
Das dunkle Blau ihrer Augen
blickt gefühllos durch die Welt in der sie sich bewegt, als würde nichts und
niemand eine Reaktion in ihr auslösen können.
Die kleinen Spatzen, die sich über die Krümel der Touristen her machen,
flattern aufgeregt zur Seite wenn sie zu nahe kommt. Es scheint fast, als
hätten sie Angst, sich einer Schönheit wie ihr in den Weg zu stellen. Diese
Wirkung zeigt sich jedoch nicht nur bei den unschuldigen Vögeln, sondern
überträgt sich auch auf die Menschen, die sie alle anstarren wie eine
verlorengegangene Göttin die plötzlich in Mitten der Stadt aufgetaucht ist.
Obwohl es sonst kaum möglich ist, sich während des Marktes frei zu bewegen,
scheint sich unwillkürlich ein Weg für sie zu aufzutun. Niemand will einer
Göttin im Wege sein, denn so schön wie sie ist, so zornig kann sie werden.
Neben dem kleinen Brunnen in der
Mitte des Marktplatzes sitzt ein Bettler in einen dicken schwarzen Mantel
gehüllt. Obwohl die Göttin genau auf ihn zu steuert, scheint er sie gar nicht
wahrzunehmen. Sein dunkler Blick liegt starr auf den ranzigen Hut vor seinen
verschränkten Füßen. Die abgetragenen Stiefel haben jeden Glanz verloren, genau
wie seine Augen. Seine Hände sind verschränkt, doch der Dreck unter seinen
Nägeln ist auch aus der Entfernung deutlich zu erkennen.
Die Göttin schreitet weiter,
lässt die Unwürdigen weiter zur Seite springen und ihr Haar weiter schwingen.
Der Brunnen rückt näher. In der goldenen Herbstsonne glänzt das Wasser des
Brunnens wie Tränen die noch nicht vergossen wurden, doch ihr Blick bleibt
weiter kalt. Die blauen Augen mustern den Bettler bereits, als würden sie
erwarten, dass er es dem gemeinen Volk gleich tut und ihre Schönheit nicht
durch seine Anwesenheit befleckt.
Doch noch immer sitzt er stumm
da, bewegt sich kaum und starrt auf seinen Hut, statt auf die sich nähernde
Schönheit. Aus der Ferne scheint es ganz so, als würde sie unbeachtet an ihm
vorbei gehen.
Plötzlich erhebt sich der Bettler
und die Göttin bleibt wie angewurzelt stehen. Ihre Augen scheinen zu flackern, als
wüsste sie nicht was für ein Gefühl sich in ihr breit macht. Die Kälte um sie
herum brennt plötzlich lichterloh, wie ein Feuer, dass zu lange darauf gewartet
hat, entfacht zu werden. Der Bettler tritt seinen Hut zur Seite, so dass die
Münzen sich über den steinigen Boden des Marktplatzes verteilen. Die Zeit
scheint eingefroren zu sein. Niemand wagt es auch nur zu atmen.
Der Bettler macht einen Schritt
auf die Göttin zu und schüttelt mit dem Kopf, als könnte er nicht glauben was
er sieht. Der Brunnen hört plötzlich auf zu sprudeln.
Die Göttin bleibt stumm, rührt
sich nicht und scheint von den dunklen Augen vor sich gefangen zu sein. Er
tritt noch dichter an sie heran und streift den schmutzigen Mantel von seinen
Schultern.
„Es ist die falsche Zeit für eine
Göttin“, sagt er und legt den Mantel um ihre zarten Schultern.
„Es gibt keine Götter“, entgegnet
sie und lässt zu, dass er seine schmutzige Hand nach ihr ausstreckt. Er berührt
sachte ihre Wange und schüttelt den Kopf.
„Noch nicht.“
Er lächelt und beugt sich zu ihr,
ganz so als wolle er die roten Lippen küssen. Doch kurz bevor seine rissigen
Lippen die ihre berühren, ertönt ein lautes Knacken, dass alle Anwesenden des
Marktes zusammenzucken lässt. Die Göttin fällt regungslos zu Boden. Ihr Körper
ist noch immer in den schmutzigen Mantel gehüllt, doch statt das dieser ihre
Schönheit mindert scheint er sie eher zu unterstreichen. In den eisigen Augen
scheinen stumme Tränen zu glänzen.
Der Bettler ist verschwunden, als
hätte es ihn nie gegeben.
Super geschichte!
AntwortenLöschenDas Ende hat mich echt umgehauen!