Im Laufe der Zeit fielen ihm noch
mehr Gemeinsamkeiten mit der Schule auf. Da war zum einen der geregelte
Tagesablauf. Mit 15 Jahren hatte er es gehasst, aber jetzt lagen die Dinge
etwas anders. Frank war es recht, so wurde er zwar nicht glücklich, aber
immerhin hatte er etwas zu tun. Doch was ihn vor allem dazu brachte nicht
wahnsinnig zu werden, war die Gewissheit, dass er hier etwas für Marie tat.
Hätte er in der Schule eine ähnliche Motivation gehabt, dann hätte er
vielleicht doch seinen Abschluss gemacht.
Gut zu wissen, dass die Lehrer zumindest in diesem Punkt recht hatten …
Mit dem Alter kommt die Einsicht auf das, was man hätte besser machen können.
Zum Glück bin ich nicht der Typ der sich daraus einen Strick dreht. Ohne meine
Vergangenheit hätte ich Marie nie kennengelernt.
Wenn er sich an die Regeln hielt,
dann würde er die Zeit hier schon überstehen. Genau wie an einer High School
gab es Grüppchen: Die Versager, saßen in der Nähe seines Tisches, sie waren ein
willkommendes Fressen für jeden Häftling der unter Einsamkeit litt. Frank hatte
noch nie einen von ihnen laut reden gehört. Meistens tuschelten sie
untereinander, als hätten sie Angst jemand könnte sie wahrnehmen. Viele von
ihnen hatten geschwollene Gesichter und gebrochene Nasen. Sie saßen zum größten
Teil wegen Betrugs, nichts womit sie hier Eindruck schinden konnten. Eher das
Gegenteil war der Fall, damit machten sie sich eher noch unbeliebter. Allesamt
sahen dünn und ausgemerkelt aus. Ihre Hände zitterten während sie versuchten die
Löffel zu ihren Mündern zu führen. Wenn Frank sie zu lange ansah, ließen sie
ihr Besteck sinken und legten die Hände in den Schoß, ganz so als würden sie
wissen, was sie falsch gemacht hatten.
Ich weiß nicht, ob ich sie bedauern oder ignorieren soll. Sie erinnern
mich an Hunde aus dem Tierheim, die man nicht selbst mit nach Hause nehmen
kann, die man aber auch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen will.
Die Totschläger und Mörder saßen
ganz in der Nähe der Mafia und gehörten damit zu Oberliga. Ihnen gegenüber nur
auf der anderen Seite hatte sich eine Bande aus Nazis versammelt. Die meisten
von ihnen saßen ebenfalls wegen Mordes. Auch wenn zwischen den verschiedenen
Banden immer eine gewisse Spannung herrschte ließen sie einander doch meistens
in Ruhe. Niemand wollte Tote auf seiner Seite riskieren.
Wie sollte es auch andres sein. Je mehr Menschenleben auf deine Kappe
gehen, umso besser für dich. Wenn du genug umgebracht hast, lassen sie dich in
Ruhe.
Diese Gruppe bestand fast nur aus
Muskelpakten, deren Tätowierungen genau verrieten zu welcher Gang sie sich
zählten. Etwas am Rande hatten sich Kinderschänder und Vergewaltiger in zwei
Gruppen gespalten.
Frank saß nach wie vor alleine an
seinem Tisch. Damit war er allerdings nicht der einzige. Mitten in den Reihen
saß ein Mann alleine an einem Tisch, der nicht ins Bild zu passen schien. Frank
hatte noch nie mit ihm geredet und hatte es auch nicht vor. Die anderen nannten
ihn nur den „Kinderfresser“. Er war nicht scharf darauf zu erfahren was dieser
Mann angestellt hatte, dass selbst die Mafia die Finger von ihm ließ.
Am größten Tisch saßen so
ziemlich alle anderen. Bei ihnen gab es keine genauen Anforderungen, dort gab
es Mörder, Schläger, Drogendealer bis ihn zum einen oder andern, angeblich
unschuldigen Vergewaltiger. Sie wurden von den anderen Gruppen meistens
ignoriert. Frank betrachtete diese Gruppe etwas länger. Wie alle anderen hatte
auch diese Gruppe einen Anführer. Thomas Luck. Ein stabiler Mann Ende dreißig,
mit lichtem blonden Haar und einer Adlernase. Ohne ihn wäre diese Gruppe
wahrscheinlich kleiner gewesen.
Frank wusste nicht warum, aber
die Männer, alle Männer, hatten Angst vor ihm. Kopfschüttelnd schlang er seinen
Haferschleim herunter. Er fragte sich wo sein Platz gewesen wäre, wenn er wegen
etwas anderem sitzen würde. Wahrscheinlich irgendwo bei Luck. Aus irgendeinem
Grund mochte Frank ihn, auch wenn sie noch nie mit einander geredet hatten.
Aber er hatte eine Ausstrahlung, die im Vergleich zu den anderen durchaus als
positiv gewertet werden konnte.
Es war ein relativ sonniger Tag
und einer der wenigen, bei denen er von zu starken Erinnerungen an Sunshine,
verschont blieb. Mittlerweile hatte er sich in die Gefängnisbibliothek verirrt
und angefangen, die eher schmächtige Auswahl der Bücher durchzuarbeiten. Immerhin
hatte es das Einschlafen sehr erleichtert, denn Hage schnarchte wie ein Bär, so
dass er versuchen musste diese Geräusche auszublenden.
Die Bücher bauten eine Mauer,
seinen ganz persönlichen Schutzwall. Wenn er lange genug las, konnte er alle
anderen Gedanken verdrängen. Die Figuren der Bücher schienen plötzlich in
seinem Leben zu sein, so dass er sich in Ruhe mit deren Geschichten
beschäftigen konnte, bis sie wieder durch ein anderes Buch ersetzt wurden. Er
war gerade in Goethes Faust versunken, als Hage sich plötzlich zu ihm setzte.
Verwirrt sah Frank auf. Er hatte
einige Schwierigkeiten sich wirklich auf das Buch zu konzentrieren und die
Anwesenheit seines Zellengenossen machte es ihm nicht leicht den Anschluss
nicht wieder zu verlieren.
„Was gibt’s?“
Der Riese hatte ihn meistens
ignoriert, besonders wenn sie unter den anderen Häftlingen waren. Beim Essen
hatte er ihn nicht Mal eines Blickes gewürdigt, darum erstaunte ihn sein
Auftauchen umso mehr. Hage murmelte einen leisen Fluch. Frank konnte nicht
anderes, als ihn verwirrt anzustarren. Einen Finger hielt er noch immer an der
Stelle, an der er aufgehört hatte zu lesen.
„Hör zu Junge“, flüsterte er
leise, als wäre es Franks Todestag. „Ich tu das, weiß der Teufel, nicht gerne.
Es ist ein Wunder das es dich nicht früher erwischt hat. Du hattest Glück, aber
jetzt bist du ihnen ins Auge gefallen. Verstehst du was ich sagen will?“
Plötzlich wurde ihm eiskalt .
Franks Nackenhaare stellten sich auf und seine Knie fingen an zu zucken. Sein Finger
verrutschte und er klappte das Buch zu.
„Was ist los, Hage?“, fragte er
in der stillen Hoffnung es gäbe einen anderen Grund. Er suchte sogar schon
einen, aber Hages Augen sagten alles. Der Große grunzte unbehaglich.
„Eigentlich dürfte ich nicht mal mit dir reden. Schon gar nicht darüber“,
meinte er noch ernster.
Einen Moment sah es so aus, als
würde er über seine Schulter blicken wollen, doch dann tat er es nicht sondern
presste seine Hand gegen eine der Stuhllehnen.
„Aber ich finde jeder Mann hat das
Recht sich darauf vorbereiten zu können. Wenn man sich erst Mal damit
abgefunden hat, wird es etwas einfacher …“
Frank nickte. Das schreckliche
Bewusstsein vergiftete sein Gehirn und ließ keinen klaren Gedanken mehr zu.
Hage richtete sich auf, dabei Knarrte sein Stuhl auf widerliche Art. „Ich werde
sehen was ich tun kann“, sagte er ruhig und sah sich etwas nervös um.
„Niemand kann sie davon abhalten,
aber wenn du dich kampflos ergibst wird es schneller wieder vorbei sein …“
Frank konnte wieder nur nicken,
seine Kehle war zu trocken um etwas zu sagen. Dann ging Hage und er saß wieder
allein an dem Tisch. Sein Blick schweifte über die Tische und er fragte sich
wer von ihnen wohl dabei sein würde. Es gab viele, die Gefallen daran hatten.
Viel zu viele. Sein Blick blieb an einem der Mafiatypen hängen, Hulio
irgendwas.
Plötzlich wurde er wütend weil
Hage ihn gewarnt hatte. Jetzt konnte er sich mit keinem Buch der Welt mehr
ablenken. Seine Augen suchten die Männer ab, er fragte sich immer wieder, ob er
es irgendwie verhindern konnte. Nach dem Grund zu fragen, hatte er bereits
aufgegeben. Wie in Trance saß er vor seinem Essen und versuchte in der
gelblichen Pampe einen Ausweg zu finden. Aber da war nichts, nichts was ihn
dazu veranlasste zu hoffen. Wieder etwas das ihn an die Schule erinnerte.
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